Virtuell oder in Präsenz? An dieser Frage scheiden sich seit Beginn der Corona-Pandemie die Geister, nicht nur beim Thema Betriebsversammlung. Der Reformvorschlag des DGB zum Betriebsverfassungsgesetz verbindet das Beste aus beiden Welten.

von Dr. Michael Bolte, Abteilung Grundsatzangelegenheiten und Gesellschaftspolitik, DGB Bundesvorstand

Odysseus musste während der Odyssee mit seinem Schiff eine Meerenge durchqueren und hatte, je nach Kurs, die Wahl zwischen zwei Meerungeheuern: Skylla und Charybdis – entweder seine Mannschaft und er werden verschlungen oder sein Schiff zerstört, was auf offenem Meer ebenfalls keine gute Alternative ist. Homer benutzte das Bild, um ein Dilemma darzustellen. Egal, was Odysseus tut, es wird ihm schaden.

Virtuelle Betriebsversammlung: Weniger Aufwand und mehr Teilnahme

Während der Corona-Pandemie haben sehr viele Betriebsräte die Möglichkeiten genutzt, die der – aufgrund der pandemischen Situation als Übergangslösung eingeführte – § 129 BetrVG eröffnet hat. Im Fokus dieser Regelung steht insbesondere die Möglichkeit, Betriebsversammlungen (mindestens teilweise) als Videokonferenz durchzuführen.

Aus diesen Erfahrungen resultieren – aus der Sicht des gewerkschaftlichen Hauptamtlichen, der auf Erfahrungsberichte aus den Betrieben angewiesen ist – mehrere Geschichten. Zwei „Geschichten“, die in meiner subjektiven Wahrnehmung nahezu gleich oft erzählt werden, seien hier skizziert.

Die erste Geschichte – nennen wir sie Skylla – warnt davor, dass sich eine Betriebsversammlung in Präsenz vor allem durch einen großen organisatorischen Aufwand auszeichnen würden. Dieser habe aufgrund mangelnder Beteiligung und fehlender Diskussionskultur zudem keinen entsprechenden Nutzen zur Folge. Durch den Einsatz von Videokonferenztechnik würden die Versammlungen dagegen auf eine neue Qualitätsstufe gehoben. Mehr Menschen nähmen teil, die Diskussionskultur gewönne, indem mehr und sachlicher diskutiert würde. Nicht zuletzt sei die Organisation der Versammlung wesentlich leichter.

Betriebsversammlung in Präsenz: Die Kraft der Unmittelbarkeit

Die zweite Geschichte – nennen wir sie Charybdis – erzählt das genaue Gegenteil. Hier sind die virtuellen Versammlungen das erwartete Übel, da man währenddessen ja prima auch seine Mails bearbeiten könne, während die Versammlung – bei ausgeschalteter Kamera – einfach nebenher liefe.

Eine Betriebsversammlung in Präsenz kann dagegen – auch aufgrund der teilweise aufwendigen Vorbereitungen und des Ruhens der Arbeit während der Versammlung – eine Demonstration der Solidarität sein. Der Arbeitgeber erlebe ggf. den Unmut der versammelten Belegschaft hautnah. Dieser wichtige Effekt auf die Arbeitgeber reduziert sich bei den virtuellen Versammlungen auf null. Einen Videostream kann man bzw. der Arbeitgeber „nicht riechen“.

Es ist natürlich von der betrieblichen Situation abhängig, welche der Geschichten erzählt wird. In großen Produktionsbetrieben gibt es oft einen durchsetzungsfähigen Betriebsrat, der eine gut besuchte Betriebsversammlung als Machtdemonstration zu nutzen weiß. Dieser wird eine virtuelle Versammlung eher als defizitär erleben.

Auf die betrieblichen Besonderheiten kommt es an

In eher dezentralen Strukturen, in denen sich die Betriebsräte in endlosen, zudem vielleicht nicht so sonderlich gut besuchten Abteilungsversammlungen, etwa auf Ebene der Filialbetriebe, aufreiben, ist eine virtuelle Sitzung eine willkommene Möglichkeit, „endlich mal alle zusammen zu holen“.

Und zwischen diesen beiden Beispielen gibt es noch eine Vielzahl von weiteren betrieblichen Varianten, die die Betriebsräte in die eine oder die andere Richtung tendieren lassen.

Das Wichtige daran ist: Alle haben Recht! Aus ihrer eigenen Perspektive und unter Berücksichtigung ihrer betrieblichen Besonderheiten.

Wie man Monster umschifft – oder: Das Beste aus beiden Welten

Statt nur auf einen möglichen Schaden zu fokussieren, findet sich im Reformentwurf ein – wie wir finden guter – Kompromiss, der die Vorteile beider Veranstaltungsformen in den Vordergrund stellt. Der neu eingefügte § 42 Abs. 3 BetrVG, der den entsprechenden Vorschlag regelt, macht zunächst eine hybride Teilnahme an Betriebsversammlungen dauerhaft möglich.

Auf der anderen Seite schützt er aber auch die Präsenzversammlung, indem zwei derartige Versammlungen im Jahr vorgeschrieben bleiben. Zentral ist, dass die Entscheidung über die Form der Teilnahme nicht der Arbeitgeber fällt, sondern immer nur der Betriebsrat bzw. der oder die jeweilige Beschäftigte.

Im Übrigen: Es heißt, Iason und seine Argonauten seien einfach zwischen Skylla und Charybdis hindurch gefahren, habe also beide Übel gemieden. Am Ende sind es die Betriebsratsgremien, die allein über die Form der Betriebsversammlung entscheiden und damit auch den „richtigen Kurs“ setzen können.