Von Dr. Ernesto Klengel, Hugo Sinzheimer Institut
Geht es um die Kern-Herausforderung von Digitalisierung und neuen Technologien in der Arbeitswelt wird Arbeitsschutz nur selten zuerst genannt. Doch dass die neuen und neuartigen Arbeitsmittel mit neuen Gefährdungslagen für die Gesundheit der Beschäftigten einher gehen, liegt auf der Hand – Überwachung, Entgrenzung und Intensivierung sind die Stichworte. Dem Arbeitsschutz wird deshalb eine zentrale Aufgabe zukommen, zu einer humanen Arbeitswelt der Zukunft beizutragen.
Entscheidend ist dabei auch die wirksame Durchsetzung der bestehenden Regelungen. Haben Arbeitsschutzkontrollen bereits heute Seltenheitswert, stößt der behördliche Arbeitsschutz in der digitalen Arbeitswelt auf weitere Restriktionen. Die betriebliche Mitbestimmung kann daher ein wichtiger Baustein zur Umsetzung eines zeitgemäßen Arbeitsschutzes sein. Doch während das Arbeitsschutzrecht selbst durchaus an den jeweiligen Stand von Arbeitswissenschaft und Technik angepasst wird, bleibt beim Betriebsverfassungsrecht seit Langem Vieles beim Alten. Dabei zeigt sich gerade unter dem Blickpunkt des Arbeitsschutzes, wie dringend eine Reform ist.
Alte und neue Themen des Arbeitsschutzes
In der digitalen Arbeitswelt verschieben sich die Gefährdungsfaktoren in der Arbeitswelt. Digitalisierungsprojekte führen zumindest in der Einführungsphase zu einem erhöhten Workload. Eine aktuelle Veröffentlichung aus der BAUA beschreibt, dass „informationsbezogene Tätigkeiten“ generell mit einer erhöhten Arbeitsintensität bei einer größeren Arbeitsautonomie der Beschäftigten einher gehen (Robleski, Swantje et al., S. 287 ff.). Psychische Risikofaktoren gewinnen in der digitalisierten Arbeitswelt folgerichtig an Bedeutung, während bei den körperlichen Gesundheitsgefahren v.a. Bewegungsmangel zunehmend in den Blick gerät. Der Anstieg der psychischen Erkrankungen um über ein Drittel innerhalb von zehn Jahren, wie sie etwa der Fehlzeitenreport der AOK für das Jahr 2020 für die Zeit vor der Pandemie dokumentiert hat (S. 403), haben zweifellos auch mit den Entwicklungen in der Arbeitswelt zu tun.
Doch nicht nur die Gefahren, auf die der Gesundheitsschutz reagieren muss, verschieben sich, sondern auch die Fragen nach der Durchsetzung des Arbeitsschutzes stellen sich in neuer Schärfe: Es fehlen der Zugang zu den Betrieben und zu den flexiblen und mobilen Arbeitsplätzen sowie der informelle Austausch über gesundheitliche Probleme am Arbeitsplatz. Ausgelagerte Subunternehmer*innen und Soloselbstständige fallen häufig gänzlich durch das Raster. So rückt der Arbeitsschutz im Arbeitsalltag vielfach in den Hintergrund.
Mitbestimmung als Schlüssel?
Mitbestimmung ist ein wichtiger Baustein für den Arbeitsschutz im Betrieb. Betriebsräte kennen die Arbeitsplätze und haben eine Vertrauensstellung gegenüber der Belegschaft. Der Zugang zum Betrieb, wie er für den staatlichen Arbeitsschutz diskutiert wird, ist für Betriebsräte weniger virulent: Sofern ein Betriebsrat gewählt wurde, ist er vor Ort. Mitbestimmungsgremien haben die Kompetenz entwickelt, auf die Einhaltung von Arbeitsschutzbestimmungen zu achten und sie haben hierfür Zugang zu den relevanten Informationen, etwa aktuellen Gefährdungsbeurteilungen. Gerade in der Prävention der Gesundheitsgefahren der digitalen Arbeitswelt kann der Betriebsrat eine wichtige Rolle spielen.
Auch wenn Arbeitgeber die Verantwortung für die Einhaltung des Arbeitsschutzes im Umgang mit digitalen Arbeitsmitteln immer mehr auf die einzelnen Arbeitnehmer*innen übertragen, ist eine Stärkung der Mitbestimmung die richtige Antwort. Denn hier besteht unweigerlich die Versuchung, die Schraube zu überdrehen und den Workload (zu) hochzuhalten. Für „eigenverantwortlichen“ Arbeitsschutz ist dann im Arbeitsalltag schlicht kein Raum mehr. Eine aktive Rolle von Betriebsräten würde auch diesen Folgen der Individualisierung entgegenwirken.
Die betriebliche Mitbestimmung übernimmt zudem Regelungs- und Gestaltungsaufgaben, die staatliche Instanzen und Behörden nicht wahrnehmen können. Beschäftigten wird durch als starr empfundene Regelungen der Eindruck vermittelt, dass der Arbeitsschutz eine bürokratische Behinderung ihres eigenen Arbeitsalltags bedeutet. Betriebliche Regelungen können besser auf Besonderheiten vor Ort eingehen.
Die Themen der Mitbestimmung sind damit vorgezeichnet: Beschäftigtenvertretungen brauchen die Ausstattung, um die digitalen Arbeitsplätze und Arbeitsmittel kontrollieren zu können. Sie müssen die allgemeinen Regelungen des Arbeitsschutzes flexibel auf die betrieblichen Gesundheitsgefahren herunterbrechen können und frühzeitig einbezogen sein. Sie sollten eine aktive Rolle dabei spielen, die Arbeitsintensität zu ermitteln und zu steuern. Da IT-Systeme kurzfristig geändert werden und Gefährdungen oft erst nach einiger Zeit sichtbar werden, muss all dies unbürokratisch und schnell möglich sein.
Vorschlag für ein zeitgemäßes Update des Betriebsverfassungsgesetzes
Der Gesetzentwurf für ein modernes BetrVG greift verschiedene Punkte des Arbeitsschutzes in der digitalen Arbeitswelt auf.
1) Sachverstand für kompetente Gremien
Für den Arbeitsschutz ist es relevant zu verstehen, wie ein technisches System funktioniert, etwa um beurteilen zu können, ob es Überwachung der Beschäftigten geeignet ist. Deshalb soll der Betriebsrat einfacher auf Sachverstand zurückgreifen können. Derzeit kann der Arbeitgeber den Prozess häufig so lange verzögern, bis sich die Angelegenheit erledigt hat. Bisweilen greift man stattdessen auf den Schulungsanspruch nach § 37 Abs. 6 BetrVG zurück, der für eine konkrete Beratung aber nicht gemacht ist. Der Entwurf sieht deshalb vor, dass der Betriebsrat den Sachverständigen unbürokratisch beauftragen kann. Auch die Vereinbarung über die Heranziehung eines ständigen Sachverständigen ermöglicht schnelles Handeln im Einzelfall.
2) Effektive Durchsetzung des Arbeitsschutzes
Betriebsräte sorgen für die Einhaltung der zugunsten der Belegschaft eingreifenden Gesetze. Dass Arbeitsschutzregelungen hierzu zählen, soll nunmehr ausdrücklich ins BetrVG aufgenommen werden. Bereits heute haben Betriebsräte hier Hand in Hand mit den betrieblichen Fachkräften und arbeitsschutzrechtlichen Beauftragten eine wichtige Rolle. Klargestellt werden soll auch, dass sich das Gremium zum Zwecke der Beratung nach pflichtgemäßem Ermessen jederzeit auch an betriebsexterne Stellen wie zuständige Behörden und die Träger der gesetzlichen Unfallversicherung wenden können (§ 89 Abs. 1 S. 3 BetrVG-E). Hier besteht derzeit Rechtsunsicherheit.
3) Gestaltung des Arbeitsschutzes im Betrieb
Die Rechtsprechung macht Mitbestimmungsprozesse zum Arbeits- und Gesundheitsschutz zur Zeit langwierig und umständlich. Mit der Neuregelung soll etwa das Erfordernis entfallen, dass eine betriebliche Vereinbarung eine Rahmenregelung des Arbeitsschutzes ausfüllen muss. Der Betriebsrat ist also deutlich freier in den Maßnahmen, die er vorschlägt. Außerdem entfällt der Vorrang der Gefährdungsbeurteilung. Ein neues Mitbestimmungsrecht wird vorgeschlagen für Planung der Arbeitsplätze und -abläufe (§ 87 Abs. 1 Nr. 17 BetrVG-E). Damit wird die Rolle des Betriebsrats gestärkt, Gesundheitsbelange präventiv einzubringen. Der heutige § 91 BetrVG enthält hierzu unpraktikable Einschränkungen und schlummert daher im Dornröschenschlaf.
4) Effektiver Schutz vor digitaler Überwachung
Verdeckte Überwachung durch neue technische Systeme ist eine weitere Quelle der zunehmenden Gesundheitsgefahren. Eine 360-Grad-Überwachung von Beschäftigten ist bekanntlich ebenso unzulässig (BAG v. 26.8.2008 – 1 ABR 16/07), wie der Einsatz eines Keyloggers (BAG v. 27.7.2027 – 2 AZR 681/16), der sämtliche Anschläge auf der Tastatur erfasst und auswerten lässt. Dass Überwachung das Verhalten ändert und als Dauerzustand eine Quelle für psychische Gesundheitsprobleme sein kann, ist bekannt. Datenschutz darf daher nicht nur als Persönlichkeitsschutz, sondern muss auch als Aspekt des Arbeits- und Gesundheitsschutzes verstanden werden. Neben der Klarstellung, dass technische Anlagen, die für die Überwachung geeignet sind, der Mitbestimmung unterfallen (§ 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG-E), sollen Maßnahmen zum Schutz der Würde und der Persönlichkeitsrechte (Nr. 6a) und mit dem neuen Mitbestimmungstatbestand für den betrieblichen Datenschutz (Nr. 6b) dem Betriebsrat wichtige Instrumente in die Hand geben, wirkungsvoll mitgestalten zu können.
5) Digitalisierungsprozesse als Betriebsänderungen
Die digitale Arbeitswelt ist schnelllebig. Führt der Arbeitgeber technische Neuerungen ein, schlägt der Reformentwurf weitere Betriebsratsrechte vor. Auch die Einführung algorithmischer Steuerung, Systeme künstlicher Intelligenz oder Robotik soll als Betriebsänderungen anzusehen sein. Nicht nur die sozialen Folgen der Einführung im Wege des Sozialplans würden so der Mitbestimmung unterliegen, sondern auch die Regelung der Betriebsänderung im Interessenausgleich selbst. Dem Betriebsrat wird dadurch ein zentrales Gestaltungsmittel für Veränderungsprozesse in der Digitalisierung in die Hand gegeben.
6) Mitbestimmung für einen gesunden Workload
Angesichts der in der digitalen Arbeitswelt vielfach steigenden Arbeitsintensität kann der Betriebsrat aufgrund des Entwurfs zudem bei der Steuerung der Arbeitsintensität mitbestimmen. Das vorgeschlagene Mitbestimmungsrecht stellt ein echtes Novum dar: § 92 Abs. 2 BetrVG-E soll Betriebsräten in Unternehmen mit mehr als 20 Arbeitnehmer*innen ein Mitbestimmungsrecht bei der Personalbemessung einräumen. Damit hätte er bei der Frage mitzureden, wie viele Beschäftigte in einer Schicht, an einer Maschine oder in einer Station eingesetzt werden müssen.
Fazit und Ausblick
Der Entwurf für eine Modernisierung des BetrVG knüpft an bestehende Regelungen an und ist ein wichtiges Update für die Mitbestimmung für den Arbeitsschutz von morgen. Wo Entwicklungen in der Arbeitswelt eine wirksame Verwirklichung von Arbeitsschutz-Regelungen quasi unmöglich machen, kann die unternehmerische Freiheit keine Unantastbarkeit beanspruchen. Erweiterte Durchsetzungsinstrumente und Mitbestimmungsrechte wie bei der Steuerung der Arbeitsintensität sind die richtigen Antworten auf die Gesundheitsgefahren digitaler Technologien und mit ihnen einhergehender Management-Strategien. Mit der Prognose, dass der Entwurf ein wichtiger Ausgangspunkt für Überlegungen zu einer grundsätzlich erneuerten Verantwortung der Interessenvertretungen im Arbeitsschutz sein wird, lehnt man sich daher sicher nicht weit aus dem Fenster.
Der Beitrag basiert auf einem Beitrag des Verfassers in der Fachzeitschrift „Gute Arbeit” 12/2022.
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