von Antonia Seeland, LL.M., Hugo Sinzheimer Institut, Frankfurt a.M.

 

Ungleichheiten und stereotype Rollenvorstellungen hindern auch in der Arbeitswelt daran, dass Demokratie geschlechtergerecht gelebt werden kann. Betriebe und Unternehmen sind die Orte der Erwerbstätigkeit, der Arbeit gegen Entgelt, von denen die familiäre Fürsorgetätigkeit abgegrenzt und ausgeklammert ist. Deshalb können sie ein Spielfeld sein, in dem strukturelle Ungleichheiten maßgeblich reproduziert werden. Mitbestimmung hilft hier. Doch gibt es Faktoren, die dazu führen, dass Frauen Mitbestimmung nicht gleichermaßen wahrnehmen. Nun gibt es einen interessanten Vorschlag, der helfen könnte, diese Ungleichheit zu beseitigen.

 

Das Recht auf Demokratiezeit

 

Der BetrVG-Reformentwurf enthält in § 81 Abs. 5 einen bemerkenswerten Vorschlag: Allen Beschäftigten soll mit der Demokratiezeit pro Woche mindestens eine Stunde zur Verfügung stehen, die sie nicht mit ihrer eigentlichen Arbeit verbringen, sondern in der sie sich mit den sie betreffenden Fragen im Betrieb befassen und diese z.B. mit dem Betriebsrat erörtern. Die Beteiligung wird so Teil des vereinbarten und vergüteten Dienstes. Es bleibt den Beschäftigten dabei selbst überlassen, wie sie diese Zeit gestalten. Die Demokratiezeit ist ein individuelles, höchstpersönliches Recht.

 

Frauen im Betrieb

 

Gender Care Gap, Gender Pay Gap, Gender Digital Gap…. Die Liste der Gaps ist lang, die Unterschiede in der Erwerbs- und Sorgearbeit zwischen den Geschlechtern divers und groß. Die Versorgung der Kinder oder pflegebedürftiger Angehöriger und die Arbeit im Haushalt wird gesellschaftlich den Frauen zugeschrieben. Für die Ausübung einer Erwerbsarbeit bleibt ihnen weniger Zeit. Sie üben laut dem Zweiten Gleichstellungsbericht täglich etwa 87 Minuten mehr unbezahlte Care-Arbeit aus als Männer.

 

Um alles vereinbaren zu können, sehen sich Frauen gezwungen, häufiger in Teilzeit zu arbeiten. Die Teilzeitquote von Frauen ist etwa viermal so hoch, wie die von Männern (https://www.sozialpolitik-aktuell.de/files/sozialpolitik-aktuell/_Politikfelder/Arbeitsmarkt/Datensammlung/PDF-Dateien/abbIV8d.pdf). Auch Nacht- oder Schichtarbeit führen vornehmlich Männer aus. Die Zeit, die Frauen für die Erwerbsarbeit aufbringen können, ist also begrenzt. Ihnen steht grundsätzlich weniger Präsenszeit an der Arbeit zur Verfügung. Damit auch weniger Zeit, sich einzubringen. Dadurch fällt es leichter, sie bei Entscheidungen (bewusst oder unbewusst) auszublenden.

 

Frauen in der Politik

 

Weist die Wahlbeteiligung nach Angaben des Statistischen Bundesamtes in der Bundesrepublik zwischen Frauen (76,5 %) und Männern (76,7 %) kaum Unterschiede auf, zeigen sich diese umso nachdrücklicher in der passiven Wahl. Frauen sind in Parlamenten deutlich unterrepräsentiert. Der Frauenanteil in den Landtagen liegt im Schnitt bei 32,6 %, im Bundestag bei 35 %. Das strukturelle Problem der Geschlechterungleichheit setzt sich also auch im politischen Bereich fort. Immer wieder aufkommende Debatten zu Paritätsgesetzen zeigen den Missstand und Handlungsbedarf.

 

Studien belegen, dass ein Grund dafür der Faktor Zeit ist. Die geformten Rollen und Aufgaben spiegeln sich wider (Friedrich-Ebert-Stiftung, Demokratie braucht Demokratinnen!, 2020). Politische Arbeit ist zeitintensiv und auf kommunaler Ebene in der Regel ehrenamtlich. Sie ist gekennzeichnet durch fast permanente Verfügbarkeit und abendliche Sitzungen. Die starke Einbindung der Frauen in die Sorgearbeit lässt ihnen daher kaum Raum für politische Aktivitäten. Die Ausübung ihrer demokratischen Rechte wird eingeschränkt.

 

Frauen im Betriebsrat

 

Wie es um die demokratische Beteiligung von Frauen im Betrieb steht, lässt sich unter anderem daran erkennen, wie weit sie sich in Mitbestimmungsgremien einbringen. Gemessen am Durchschnitt aller Betriebe sind Frauen entsprechend ihrem Anteil in der Belegschaft auch in Betriebsräten vertreten, womit diese bereits heute ein Motor der Gleichstellung sind. In Betrieben, in denen größtenteils Frauen tätig sind, sind sie aber nicht mehr entsprechend ihres Anteils im Betriebsrat präsent. Zudem sind sie in Führungspositionen deutlich unterrepräsentiert. Es gibt also gravierende Unterschiede in der demokratischen Beteiligung. Beispiele für eine positive Entwicklung sind Frauen an der Spitze des Betriebsrates bei VW in Wolfsburg oder Braunschweig.

 

Zur Verbesserung der Gleichstellung in den Betriebsratsgremien führte die in § 15 Abs. 2 BetrVG eingeführte Minderheitenquote im Jahr 2001. Diese Quote wirkt jedoch nur zum Schutz der Minderheit. Sie führt nicht dazu, dass Frauen, wenn sie das Mehrheitsgeschlecht sind, auch entsprechend ihres Belegschaftsanteils im Betriebsrat repräsentiert sind. Umgekehrt zeigt sich dieser Effekt bei Männern nicht (WSI, Frauen und Männer im Betriebsrat, 2017). Das deutet darauf hin, dass Gründe, die sich geschlechtsspezifisch gestalten, die aktive Mitbestimmung im Betrieb beeinflussen.

 

So eine Barriere für die demokratische Teilhabe im Betrieb könnte auch hier die Zeit sein. Den vielfältigen Aufgaben eines Betriebsratsmitglieds zu entsprechen, könnte Frauen in ihrer durchschnittlich geringeren Arbeitszeit, erschwert sein (Hans-Böckler-Stiftung, Mann vertritt Frau, 2016). Dieses zusätzliche Amt stellt für Frauen eine zeitliche Hürde dar. Macht und Stärke wird zudem häufig mit Männern assoziiert. Damit werden Männer für Führungspositionen als besonders geeignet angesehen. Für Frauen bedarf es deshalb besonderer Anstrengung und damit zeitlicher Ressourcen, die sie aber in der Regel weniger einsetzen können, um leitende Positionen zu besetzen.

 

Demokratiezeit und Gleichstellung

 

Die bisherigen Betrachtungen zeigen: Zum einen haben Frauen grundsätzlich weniger Zeit im Betrieb. Die Zeit ist zum anderen aber eine wichtige Ressource, über die man verfügen muss, um sich aktiv einzubringen, mitzubestimmen und eigene Rechte wahrzunehmen. Demokratie braucht also Zeit. Demokratie im Betrieb zu leben, ist für Frauen damit schwieriger (Hans-Böckler-Stiftung, Mann vertritt Frau, 2016).

 

Die Demokratiezeit schafft vor allem Zeit. Die Beteiligung muss nicht mehr wie zuvor parallel zu der Erledigung der anvertrauten Arbeitsaufgaben erfolgen. Freistellung für die Beteiligung kämen damit nicht allein für Betriebsratsmitglieder in Betracht, was es ermöglicht, insbesondere Beschäftigte abseits des „Normalarbeitsverhältnisses“, also beispielsweise Teilzeit- oder befristet Beschäftigte, einzubeziehen. Diese sind zudem einem erhöhten Diskriminierungsrisiko ausgesetzt. Diskriminierung knüpft hier gerade an ihre vereinbarte Zeit am Arbeitsplatz an. Um weitere negative Konsequenzen zu vermeiden, könnten sie so von ihrer demokratischen Beteiligung im Betrieb absehen. Das Besondere an der Demokratiezeit ist, dass diese Zeit explizit der Demokratie vorbehalten ist. Sie räumt ihr ein eigenes „Zeitrecht“ gegenüber den Zeiten für die Erledigung der Arbeitsaufgaben oder der Sorgearbeit ein.

 

Fazit

 

Der Gesetzentwurf hebt die Bedeutung der Demokratie in der Arbeitswelt in begrüßenswerter Weise hervor und fördert die Sensibilisierung. Diese Freistellung kann besondere Bedeutung für Frauen insbesondere für ihre aktive Rolle bei der gelebten Demokratie im Betrieb haben, da sie so mit der Ressource ausgestattet werden, die für sie ein knapperes Gut, gleichzeitig aber Grundvoraussetzung der Beteiligung ist.

 

Der BetrVG-Reformvorschlag sieht ein Bündel an Maßnahmen zur Gleichstellung vor. Das ist wichtig, um strukturelle Veränderungen herbeizuführen und Stereotype abzubauen. Bereits jetzt ist die Förderung und Überwachung der Gleichstellung und Vereinbarkeit gesetzlich geregelte Aufgabe der Betriebsräte (§§ 80 Abs. 1 Nr. 2a, 92 Abs. 3, 75 Abs. 1 BetrVG). Die Mitbestimmungsakteure sind wichtige Treiber für die Gleichstellung. In mitbestimmten Betrieben sind zum Beispiel flexible Arbeitszeitregelungen oder die Unterstützung für Beschäftigte mit pflegebedürftigen Angehörigen deutlich wahrscheinlicher (Jirjahn/Mohrenweiser, Works Councils and Organizational Gender Policies in Germany, 2019). Dass der BetrVG-Reformvorschlag weitergehende Mitbestimmungsrechte vorsieht, ist wichtig. So soll der Betriebsrat künftig auch bei Maßnahmen zur Herstellung der Entgeltgleichheit mitbestimmen (§ 87 Nr. 10a BetrVG-RE) sowie bei der Personalplanung zur Durchsetzung von Gleichstellung und der Förderung von Vereinbarkeit. Zudem soll die erfolgreiche Quotenregelung nach § 15 Abs. 2 BetrVG ausgeweitet werden.

 

Zeit ist eine politische Größe, was im besonderen Maße in Bezug auf die bestehenden Geschlechterungleichheiten deutlich wird. Für das Gleichstellungsproblem der Demokratie ist es hilfreich, Sensibilität dafür zu schaffen und Zeit neu zu verhandeln.